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15. Nov. 2021

“Jeder Wunsch nach Sortierung enthält dessen Niedergang”

Gastkünstler Aron Rossman-Kiss sieht in der mäandernden Form des Marschlands ein Modell für die Bibliothek, um Sortierungen die Schärfe und Ordnungen die Macht zu nehmen. Am Bild der Naturlandschaft entwickelt er im Interview seine Metapher für vieldeutige, widerständige Archive.

Impossible Library: Du hast jetzt einige Zeit in der Impossible Library verbracht, als Artist-in-Residence. Was sind deine Eindrücke, was hast du entdeckt?

Aron Rossman-Kiss: Mir gefällt die Idee des Raums und ich sehe sein Potential. Es ist spannend zu sehen, wie unterschiedliche Sprachen und Stile miteinander interagieren, wenn man durch die Stapel blättert – wie Dialekte, die aufeinander Bezug nehmen. Was ich gut fand, und auch eingesetzt habe, ist, dass es sehr viele Erstausgaben gibt. Ich bin diese Magazine durchgegangen und habe mir die Editorials durchgelesen, man erfährt viel über die Projekte und wie sie begründet werden. Das ist berührend, selbst bei einigen der kommerzielleren Titel: Was hat jemanden dazu gebracht, eine neue Publikation zu starten. Auch hier ist der Vergleich interessant.

"Ich war neugierig, wie dieses Raster in der Landschaft und in der Bibliothek auftaucht."

IL: Dein Vortrag hatte den Titel „Reading Marshes“ – über Matsch, Dreck und den seltsamen Geruch des Niemandslands. Über das Zusammenspiel von Land und Meer, aber auch die Zerstörung von Lebens- und Rückzugsräumen. Wenn du über Bibliotheken nachdenkst, sind sie auch eine Art Rückzugsraum – sie sind trocken, warm … ist das die Brücke zwischen dem Marschland und der Bibliothek, dem Archiv, die du gesehen hast?

ARK: Bevor ich nach Hamburg gekommen bin, habe ich mich mit der Geschichte der Stadt beschäftigt, die schon seit dem 12. Jahrhundert auf Marschland und zurückgewonnenem Land gebaut wurde. Als ich dann mit den Gründer*innen der Impossible Library gesprochen habe, hat sich gezeigt, dass ein Teil der Magazinstapel vorher im Hamburger Oberhafen lagerte, im Flutgebiet. Ein unmöglicher Ort für eine Bibliothek, die sich dann hier einen trockeneren Ort gesucht hat. Davon ausgehend wollte ich mehr über die natürlichen und materiellen Gegebenheiten erfahren, die ein Archiv ermöglichen, und über die mentalen Bilder und Karten, die eine Bibliothek strukturieren und die diese dann in die Welt projiziert. Also das Zusammenspiel dieser zwei Verbindungen.

Reading marshes: Vorbereitungen für Installation und Vortrag in der IL. Foto: IL

Deshalb habe ich viel über Hamburg und die Elbe gelesen, und über die ersten Bibliotheken in Mesopotamien, wo die ersten urbanen Zentren und Staaten entstanden sind – auf Marschland, in einer Region, die heute der Süden Iraks ist. Mich hat interessiert, diese Entstehung des modernen Staats nachzuzeichnen und den Modernitäts-Diskurs, der sich erstmal gegen das Marschland in Stellung bringt. Es gibt sehr viele Projekte in Hamburg – aber auch im Mittlere Osten, in jedem modernen Land – bei denen Marschland ausgetrocknet wird, um eine künstliche, rasterförmige Landschaft zu erschaffen, die lesbar und kontrollierbar ist. Deshalb war ich neugierig, wie dieses Raster in der Landschaft und in der Bibliothek auftaucht. In meinem Vortrag ging es unter anderem darum, wie wir Bibliotheken „marshy“ machen, mehrdeutiger und widerstandsfähiger.

"Wenn wir anfangen, die Kategorien als ewige Gesetze zu begreifen, dann geht das mehrdeutige, amorphe, amphibische dazwischen verloren"

IL: Welche Rolle hat dabei das Archiv hier in der IL gespielt?

ARK: Mein Ausgangspunkt in Hamburg war ein Interesse an verschiedenen Formen der Klassifizierung. Ich hatte aber den Eindruck, dass die Sammlung nicht zu dem Ansatz passt. Deshalb habe ich mich etwas grundlegender mit der Logik des Klassifizierens beschäftigt und mit der Idee, Wissen oder andere Territorien lesbar, organisierbar, klassifizierbar zu machen – und was in diesem Prozess verloren geht. Generell geht viel verloren, wenn man die Welt entlang dieser Raster betrachtet. Ich habe während des Vortrags einen Ausschnitt von Alain Resnais gezeigt, der einen Kurzfilm über die Nationalbibliothek in Paris gemacht hat. Darin sagt ein Sprecher in sehr dramatischer Stimme so etwas wie „neue Wissensgebiete wurden erfunden, um diese Bücher zu klassifizieren, die dann zu Gesetzen wurden“. Wenn wir also anfangen, die Kategorien als ewige Gesetze zu begreifen, dann geht das mehrdeutige, amorphe, amphibische dazwischen verloren, weil es keinen Platz darin hat.

IL: Geht es bei deinen Fragen um eine Art Gegenerzählung, in Form von Archiven und Manifestationen in der Landschaft?

ARK: Ja, ich habe auch einiges von Ann Stoler gelesen, die sich viel damit beschäftigt, Archive „gegen den Strich“ zu lesen, vor allem im kolonialen Kontext. Sie hat überwiegend zu den Regionen, die historisch „east indies“ genannt wurden, geforscht, und ihre Arbeit dann auf interessante Weise erweitert. Man kann es auch mit Foucault halten, um zu zeigen, dass jeder Wunsch nach Sortierung bereits dessen Niedergang enthält, in dem Sinne, dass jede Ordnung auch Unordnung erzeugt. Auch das Marschland folgt einer Ordnung, die ihm eingeschrieben ist, weil es dieses sehr komplexe, widerstandsfähige Ökosystem umfasst – viel widerstandsfähiger im Übrigen als die trockengelegten Landschaften. Und ich war neugierig, wie diese Metapher sich auf einen Wissensraum wie die Bibliothek oder ein Archiv übertragen lässt.

IL: In deiner Arbeit „July Days“ geht es um unterschiedliche, spekulative Erzählungen, die sich aus einem einzelnen Archiv-Bild ergeben. Du schreibst dazu „es geht darum, einen Chor aus Stimmen zusammenzubringen“. Welche Rolle spielen diese Themen – das Zusammenbringen, Zusammenkünfte – in deiner Arbeit?

"July Days" (2019), Installation von Aron Rossmann-Kiss. Foto: ARK

ARK: Grundsätzlich basiert ein großer Teil meiner Arbeit auf Feldstudien oder ist anderweitig von Anthropologie oder Sozialwissenschaft inspiriert. Mich interessiert, wie Diskurse aufgebaut sind, auf Grundlage verschiedener Stimmen, wie der gesamte narrative Prozess funktioniert – und dessen Dekonstruktion. In July Days geht es um … die ganze Arbeit hat mit einem Bild angefangen, auf dem angeblich Soldaten der Revolution während des russischen Bürgerkriegs zu sehen sind, mit einer Flagge mit Malevichs „Schwarzem Quadrat“. Ich habe diesen Artikel von T.J. Clark gelesen, in dem es um die Frage geht: Was bedeutet das? Was bedeutet es, wenn Kunst mit solcher Eindringlichkeit in das Alltagsleben einbricht? Was sagt das über Kunst aus und über das Leben? Das ist ein Moment, in dem revolutionäre Kunst ihren Höhepunkt hatte. Und es stellt sich heraus, dass dieses Foto nicht das „Schwarze Quadrat“ zeigt und womöglich nicht mal Soldaten der Revolution. Mich hat interessiert, was der Wunsch, dieses Bild oder etwas in diesem Bild zu sehen, für uns bedeutet und was es über unsere Beziehung zu Archiven, Archivbildern und unsere Beziehung zur Kunst und Kunstgeschichte aussagt. Diese Arbeit basiert also nicht auf einer Feldstudie, es geht eher um die geschilderte Dekonstruktion der Narrative, der Wünsche, und darum was wir heute von Geschichte erwarten.

IL: Für die Library hast du dich allerdings buchstäblich „ins Feld“ begeben, um Videos von Marschland aufzunehmen …

ARK: … das würde ich nicht als Feldstudie bezeichnen, ich bin einfach hingefahren. Dieses kleine Video, das ich für das Schaufenster der Impossible Library produziert habe, besteht aus Material, das ich auf der Insel Wilhelmsburg aufgezeichnet habe, in der Nähe des Treffpunkts der Elbarme. Es ist ein kleines Naturschutzgebiet, mit einem der letzten Tideauenwälder Europas.

IL: Du hast diese Aufnahmen mit Slogans kombiniert, zum Beispiel „Archives to the people“.

ARK: Das ist für das Schaufenster gemacht, damit Leute stehenbleiben. Diese kleinen Slogans oder Sätze beziehen sich auf meine Forschung, oder meinen Denkprozess, zu Archiven und Marschland und deren Vermischung. Mir ging es um einen spielerischen Weg, Menschen zum Stehenbleiben zu bewegen, zum Hereinkommen.

Ich habe an einem Punkt meines Aufenthalts selbst versucht, zu kategorisieren, zu sortieren. Aber dann bemerkt, dass es nicht angemessen war. Das sagt weniger etwas über die Qualität des Materials, als über meine Wünsche. Es war interessant für mich zu sehen, wie ich in dieser Bibliothek stand und mein eigenes Narrativ einschreiben wollte – dieser sehr widerspenstigen Wissens-Sammlung. Ich hätte das weiterverfolgen können – aber ich glaube das hätte wenig Sinn ergeben. Mir ging es darum zu sehen, wie es als Ressource zugänglich gemacht werden könnte, zum Beispiel für Themen sozialer Gerechtigkeit. Aber die Kategorien, die sich dann aus dem Material ergeben haben, waren zu verstreut und passten nicht mit der Idee in meinem Kopf zusammen. Das war interessant, und diese Realisation war mir definitiv wichtig, eben auch festzustellen, dass ich selbst dieses Narrativ überstülpen wollte. Was nicht funktioniert hat.

Interview: Nina Prader

Support: Torben Körschkes, Annika Dorau, Ina Römling und Urs Spindler

Fotos: Torben Körschkes, Ina Römling / Aron Rossmann-Kiss

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