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19. Okt. 2020

Unerzählte Geschichten durch Comics, Fensterfronten & Parkplätzen

Aufgrund von Covid-19 wandelte das diesjährige Comic-Festival Hamburg alle Veranstaltungen in einen Panel-Walk um. In den Schaufenstern kleiner Geschäfte, Galerien und an Wänden im öffentlichen Raum wurden großformatige Comics gezeigt. Zusätzlich zu der Ausstellung von Bruchlinien: 3 Episoden zum NSU in der Fensterfront der Impossible Library hielt Anne König eine Präsentation auf zwei leeren Parkplätzen vor der Bibliothek und unter Beachtung der Abstandsregeln.

Bruchlinien: 3 Episoden zum NSU, geschrieben von Anne König (Spector Books, Leipzig) und gezeichnet von Nino Paula Bulling, veröffentlicht bei Spector Books, ist ein bahnbrechender Comic, der drei undokumentierte Episoden rekonstruiert, die sich auf die deutsche Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) beziehen. Bis heute dient der NSU als eine zeitgenössische und historisch eingebettete Fallstudie, die zeigt, dass Rechtsextremismus immer noch ein globales Problem ist.

Die Vorfälle im Comic zeichnen die Leerstellen nach, in denen Informationen im fünf Jahre dauernden NSU-Prozess unter den Teppich gekehrt wurden. Die Bilder verflechten Fakten und Imagination. Bemerkenswert ist, dass in den drei Kapiteln gegensätzliche weibliche Perspektiven aufeinander bezogen werden: Eine Komplizin des NSU, die nie vor Gericht stand; eine unbekannte Bürokratin, die wichtige Akten schredderte; und die hinterbliebene Tochter eines der Mordopfer.

Schaufenster für soziale Gerechtigkeit

Das Schaufenster wirkte auf mehreren Ebenen symbolisch mit. Dank der ikonischen Künstlerin und Gründungsmitglied von Printed Matter Inc. Lucy Lippard, sind Schaufenster ein anerkanntes künstlerisches Format, um Fragen der sozialen Gerechtigkeit mit Gedrucktem zu kommentieren. Die Impossible Library versucht ebenfalls, die Beziehung zwischen Publizieren und Gesellschaft sichtbar zu machen.

Im Fenster der Impossible Library zeigt Kapitel zwei des Comics das Schreddern wichtiger Dokumente im Kontext des NSU-Verfahrens durch Regierungsbürokrat*innen. Die Comic-Panels waren speziell angefertigte Lithographien und wurden durch die kritische Gestaltung von HEFT installiert. Sie wurden mit Büropapierklammern und dünnen Holzstäben ephemer auf schwarze Gittersäulen montiert. In der Morgen- oder Spätnachmittagssonne warfen sie drohende Schatten.

Auf der einen Seite monumentalisierte die Installation unerzählte Geschichten – wie Informationen im Prozess wissentlich zurückgehalten und vernichtet wurden. Auf der anderen Seite schienen diese Säulen an die neun Unternehmer zu erinnern: Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat, die den NSU-Terroranschlägen zum Opfer fielen.

Die öffentliche Diskussion fand als COVID-Maßnahme auf zwei Parkplätzen statt. Die vorbeifahrenden Autos schienen zu betonen, wie viele Stimmen bis heute nicht gehört wurden. Anne König führte uns durch den Publikationsprozess, die Recherche und die Interviews. Am Ende kristallisierte sich eine Beziehung zwischen dem Buch und Hamburg heraus und unterstrich, dass kein Ort in der Erzählung des NSU unschuldig ist. Gerechtigkeit, Würde und Heilung müssen den Opfern und ihren Familien noch zuteil werden.

Text: Nina Prader
Mitarbeit: Ina Römling, Urs Spindler, Malte Spindler, Torben Körschkes

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