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21. Apr. 2022

Auf der Suche nach einer verlorenen Zeit

Die camera obscura stellt die Welt auf den Kopf, nimmt, durch ein kleines Lichtloch Alltägliches auf und hält es auf Papier in der Dunkelheit fest. Die camera arhiva, ein Online Archiv für rumänische Publikationen aus den Jahren 1947 – 1989, ist der camera obscura nicht unähnlich. Im Gespräch mit den beiden Archivar:innen Petre Mogoș und Laura Naum unterhalten wir uns über die Wendigkeit unabhängiger Institutionen, über die Beschwerden von Schneemännern und begeben uns gemeinsam auf die Suche nach einer verlorenen Zeit.

Impossible Library (IL): Was war eure erste Publikation und welche wurde als letzte zu eurem Archiv Camera Arhiva hinzugefügt?

Petre Mogoș und Laura Naum (PM & LN): Der erste Eintrag auf der Archivierungsplattform ist eine rumänische Filmzeitschrift aus dem Jahr 1970 mit dem Namen Almanah Cinema, eine jährlich erscheinende Publikation, die von dem Team der Zeitschrift Cinema herausgegeben wurde. Als Monatszeitschrift, die erstmals in den 1920er Jahren erschien und in den 1960er Jahren neu aufgelegt wurde, als das ideologische Tauwetter neue kulturelle Manifestationen ermöglichte, war Cinema stolz darauf, eine der populärsten Kulturpublikationen der damaligen Zeit zu sein. Es überlebte die langen 1980er Jahre, doch die 1990er Jahre markierten den Niedergang des Magazins: Die Erscheinungsweise ging allmählich zurück, und die letzte Ausgabe des Magazins wurde schließlich 1998 veröffentlicht. Es ist weder die älteste noch die jüngste Publikation in unserer Sammlung, aber besonders interessant ist, dass sie an das Phänomen der Almanache in Rumänien und im gesamten ehemaligen Ostblock erinnert: Solche Jahreszeitschriften waren nicht nur für die Führung, die ihre jährlichen Leistungen präsentierte, sondern vor allem für die breite Öffentlichkeit von großer Bedeutung. Jährliche Ausgaben wie Cinema, Urzica (Die Brennnessel), Scînteia (Der Funke), Flacăra (Die Flamme), Ştiinţă şi Tehnică (Wissenschaft und Technik) sollten eine abschließende Bilanz des gerade zu Ende gegangenen Jahres ziehen und einen Bogen über das gerade beginnende Jahr schlagen. Die Vergangenheit und die Zukunft trafen in einer umfangreichen Publikation zusammen, die jeder besitzen und lesen wollte.

Der letzte Eintrag in der Sammlung ist eine 1985 erschienene Ausgabe der satirischen Zeitung Urzica (Die Nessel, die zwischen 1949 und 1989 mit unterschiedlichem Erfolg erschien), die mit Humor und Karikaturen über alltägliche Ereignisse und Politik eine Art revolutionäres Potenzial und Klassenbewusstsein vermitteln wollte. Auf dem Titelbild dieser Februar-Ausgabe steht ein sichtlich geplagter Schneemann einem sichtlich gelangweilten Apparatschik gegenüber, der die wichtige Aufgabe hat, Beschwerden zu bearbeiten. Die Beschwerde des Schneemanns: Der Frühling kommt! Ob dies eine diskrete Kritik an der endlosen Bürokratie des Regimes ist, an den ewigen Warteschlangen, an der Vergeblichkeit des "Sich-Beschwerens" oder einfach eine Bemerkung über den unvermeidlichen und unumkehrbaren Verfall der Menschheit, wissen wir nicht, und es ist vielleicht auch nicht so wichtig. Wichtig ist, dass Künstler:innen und Schriftsteller:innen aus der Region die Möglichkeit erhielten, zu veröffentlichen und Teil eines florierenden lokalen Verlagswesens zu sein.

Urzica (Die Nessel, die zwischen 1949 und 1989 mit unterschiedlichem Erfolg erschien)

IL: Wie viele Veröffentlichungen befinden sich in eurer Sammlung?

PM & LN: Derzeit sind genau 602 Publikationen archiviert, wobei jedem Eintrag eine unterschiedliche Anzahl von Seiten zugeordnet ist. Wir haben bewusst nie versucht, die Publikationen vollständig zu archivieren, weil wir uns von der Erwartung lösen wollten, dass es sich bei dieser Initiative um eine Geschichte mit großem G, eine Institution mit großem I oder ein Archiv mit großem A handelt. Eine solche Großschreibung würde nicht nur den eigentlichen Zweck des Projekts entkräften, sondern wäre möglicherweise auch irreführend und unehrlich. Insgesamt wurden etwa 10.000 Seiten archiviert und hochgeladen, und es wäre natürlich sehr schön, das Archiv ständig zu erweitern und den Prozess fortzusetzen, indem auch Bücher und Zeitschriften aufgenommen werden, die bei den ersten Scanvorgängen nicht berücksichtigt werden konnten.

IL: Wie kommt die Auswahl in eurem "Archiv" zustande?

PM & LN: Die Auswahl basierte nicht auf einem vorher festgelegten und festen Kriterienkatalog. Wenn wir so darüber nachdenken, haben wir uns auf Artefakte konzentriert, die unser persönliches Interesse geweckt haben, auf Veröffentlichungen, deren Versagen in der zeitgenössischen kollektiven Vorstellung wir so ungerecht fanden, dass wir wussten, dass wir unseren Teil dazu beitragen mussten, eine Art Interesse an ihrer Existenz wiederzubeleben. Aus diesem Grund mussten wir uns selbst und dem von uns archivierten Material vertrauen. Diese Art von Freiheit ist ziemlich befreiend, und vielleicht genießen sie nur unabhängige Initiativen, die sich von den kontrollierenden Blicken offizieller Institutionen fernhalten.

Natürlich gab es einige informelle Regeln, die unsere fast archäologische Forschung leiteten. Einerseits wollten wir Ablagerungen aus dem Alltagsleben aufdecken (daher konzentriert sich unsere Auswahl nicht auf sehr seltene oder schwer auffindbare Ausgaben, sondern auf Bücher und Zeitschriften, die der/die Alltagsrumäne/in vor mehr als 30 Jahren durchgeblättert hat). Andererseits haben wir versucht, die Neuartigkeit dieser Publikationen zu zeigen, die sie immer noch bewahren, sei es durch die Themen und Erzählungen, die sie verbreiten, aber auch durch die Form, da die grafische Gestaltung in einigen Fällen besonders verlockend war.

Ausgabe der Zeitung Libertatea, die am 22. und 23. Dezember, also zu einem Zeitpunkt, als das kommunistische Regime zu bröckeln begann, veröffentlicht wurde.

Wir hatten auch ein großes Interesse daran, historisch bedeutsame Neuheiten zu archivieren und zugänglich zu machen: So erhielten wir Zugang zu den ersten beiden Ausgaben der Zeitung Libertatea, die am 22. und 23. Dezember, also zu einem Zeitpunkt, als das kommunistische Regime zu bröckeln begann, veröffentlicht wurden. Zum Vergleich: Ceausescu wurde nur wenige Tage später, am ersten Weihnachtsfeiertag, hingerichtet, so dass diese redaktionellen Beispiele ein faszinierendes Bild von der Zwiespältigkeit der damaligen Zeit zeichnen: vielleicht nicht mehr kommunistisch, aber auch noch nicht kapitalistisch?

Künstlerbücher, Ausstellungskataloge und seltene Ausgaben waren ebenfalls von Interesse für uns, obwohl sie, wie bereits erwähnt, nicht unser Hauptaugenmerk waren. Eine solche Publikation, die mir sehr am Herzen liegt, ist eine Broschüre von 1983 über das Werk des rumänischen Bildhauers Kaznovsky Ernő (oder anderswo Ernest Kaznovsky). Auf dem Umschlag dieser recht kurzen Broschüre ist ein Bild zu sehen, mit dem ich aufgewachsen bin: die ausdrucksstarken monumentalen Kunstwerke am Donauufer in meiner Heimatstadt Galati. Die Broschüre enthält auch englische Übersetzungen, so dass davon auszugehen ist, dass die Broschüre für ein internationales Publikum bestimmt war und die Werke des Künstlers möglicherweise internationalen Sammler:innen zugänglich sind.

Broschüre von 1983 über das Werk des rumänischen Bildhauers Kaznovsky Ernő (oder anderswo Ernest Kaznovsky).

IL: Gibt es eine Sortierung, Systematik oder ähnliches innerhalb eurer Auswahl?

PM & LN: Um den Besucher:innen die Navigation auf der Website zu erleichtern, bieten wir eine Art Richtschnur für den Inhalt des Archivs. Wir tun dies jedoch mit bewusst gesetzten Grenzen und haben darauf geachtet, die Besucher:innen nicht zu überfordern und ihre Erfahrung nicht zu sehr zu beeinflussen. Die Angaben zu den einzelnen Veröffentlichungen sind recht spärlich, fast bürokratisch: Jede Veröffentlichung ist datiert, ihre Quelle ist angegeben, und die einzigen Informationen, die die Website bietet, sind die, die wir im Kolophon oder im Impressum der jeweiligen Veröffentlichung finden konnten. Wir sehen die Website weitgehend als eine Art Vorschauregister an, ähnlich wie man in einem offenen Aktenschrank blättern kann, der nie endet.

Wir haben zwar vier Hauptkategorien identifiziert (Kultur, Unterhaltung, Politik, Technologie), die sich nach dem Fotografieren der Sammlung eher organisch entwickelt haben, doch ist es möglich und sogar erwünscht, die Einträge zu durchstöbern, indem man mit dem Mauszeiger über die Titel fährt. Die Archivierungsplattform kann auch über Tags erkundet werden, die ein aufschlussreiches Bild zeichnen und unsere Sammlung recht anschaulich machen. Neben den üblichen Klassifizierungen (z. B. Jahrzehnt, beginnend mit den 1940er und endend mit den 1980er Jahren, oder Genre, das von der bildenden Kunst bis zur Literaturkritik reicht) versuchen wir, ein alternatives Navigationssystem durch weniger konventionelle, ungewöhnlichere Begriffe wie Flaneure, Internationalismus, Gentlemen, Natur, Spaß, Alltag oder Klassenkampf zu bieten.

IL: Habt ihr Veröffentlichungen ausgeschlossen?

PM & LN: Natürlich haben wir Publikationen ausgeschlossen, in erster Linie aus zeitlichen, finanziellen und Arbeitskraft Gründen. Es gab auch Bücher, die in ziemlich schlechtem Zustand waren, deren Einband zerrissen oder deren Seiten durch Restfeuchtigkeit zerstört waren, und die wir leider nicht berücksichtigen konnten.

IL: Was hat euch dazu bewogen, das Projekt zu starten?

PM & LN: Während unserer Arbeit für Kajet haben wir ein starkes Interesse an der Geschichte der osteuropäischen Zeitschriften und Druckerzeugnisse im Allgemeinen entwickelt. Wir hatten schon immer eine Vorliebe dafür, sozusagen "nach Resten zu suchen", sozusagen alle Broschüren, Postkarten oder Zeitschriften zu horten, in denen andere kein Potenzial sahen. Dieses Wegwerfen und Verwerfen der Vergangenheit hat uns geärgert, und so entstand das Projekt aus einer Art persönlicher Enttäuschung darüber, wie die heutige Gesellschaft mit unserer kollektiven Vergangenheit und ihren materiellen Spuren umgeht. Was die Sache noch schlimmer machte, war die Tatsache, dass die meisten (wenn nicht alle) institutionellen Archive, die sich traditionell und idealerweise mit solchen Dingen beschäftigen sollten, ihre digitalen Methoden nur sehr langsam aktualisieren. Artefakte, die so viel empirisches Potenzial haben, die an sich schon wertvolle Ressourcen sind, sind nicht nur entwertet oder aus einer marktwirtschaftlichen Perspektive fast wertlos geworden, sondern auch bedeutungslos für ihre Besitzer:innen und für eine zeitgenössische Leser:innenschaft. Camera Arhiva ist also eine Antwort darauf: eine persönliche und kleine, aber wir hoffen, dass sie das Interesse unserer Besucher:innen wecken kann, so wie die Bücher, die wir archiviert haben, unser Interesse geweckt haben.

IL: Was bewahrt bzw. veröffentlicht ihr mit der Camera Arhiva?

PM & LN: Auf ideelle Weise versuchen wir, Bruchstücke aus der kollektiven Vergangenheit zu bewahren, die in Form von Ideen und Kunstwerken überleben. Konkret geht es uns um die materielle Kultur in Form von Büchern und Zeitschriften, die wir bewahren wollen. Konkret geht es um rumänische Druckerzeugnisse, die zwischen 1947 und 1989 erschienen sind, einschließlich alltäglicher Druckerzeugnisse, also um materielle Spuren und Dokumente des kommunistischen Alltags, wie Almanache und Zeitschriften, staatliche und gewerkschaftseigene Periodika, Broschüren und Hefte, Zeitungen und Flugblätter, Belletristik-Taschenbücher und Heimwerkerhandbücher, aber auch seltene Ausgaben und Bände sowie kunstbezogene Druckerzeugnisse, Plakate und Ausstellungskataloge.

IL: Wer ist die Zielgruppe eures Archivs?

PM & LN: Das ist schwer zu sagen, aber grob gesagt umfasst unser Publikum sowohl Menschen, die sich wirklich für die (jüngere) Geschichte und weniger bekannte Erzählungen interessieren, als auch Nostalgiker:innen, die diesen Prozess des Zurückgehens in die Geschichte als therapeutisch empfinden. Nostalgie muss nicht unbedingt etwas Schlechtes sein. Vielleicht ist auch eine Art Austausch zwischen den Generationen im Spiel, bei dem die jüngeren Generationen eine Verbindung zu einer kollektiven Geschichte herstellen, die nicht die ihre ist, von der wir aber viel lernen können.

IL: Was ist eure Rolle und Funktion als Archivar:innen von Camera Arhiva?

PM & LN: Da sich das Archiv auf diese Ablagerungen der materiellen Alltagskultur konzentriert, sehen wir uns gerne als eine Art informelle Archäologen des Alltagswissens, durch die wir Spuren der Vergangenheit bergen und alltägliche Relikte rekonstruieren. Um dies zu tun und Mikrofäden der Geschichte wiederzubeleben, die beiseite geschoben wurden, müssen wir zwischen den Zeilen lesen und Bedeutungsschichten aufspüren, die nach und nach aus den offiziellen Erzählungen verschwunden sind.

IL: Auf welche Art von Herausforderungen seid ihr beim Sortieren und Kategorisieren gestoßen?

PM & LN: Neben den üblichen Verdächtigen (Zugang, Arbeitskräfte, Zeit, Geld) sind wir auch auf einige Ungereimtheiten gestoßen, die den Prozess nicht unbedingt schwieriger, aber vielleicht sogar interessanter machten. Eine dieser Diskrepanzen ist beispielsweise eine Ausgabe von Secolul XX (The Twentieth Century), einer Monatszeitschrift für universelle Literatur und Kunst, die es geschafft hat, aufkommende Trends in der Weltliteratur zu popularisieren, indem sie große Namen wie Borges, Sartre, Huxley, Gide, Hemingway und andere Klassiker übersetzte und ihre Werke einem größeren lokalen Publikum zugänglich machte. Diese Ausgabe stammt aus dem Jahr 1988 – aber! sie zeigt auf dem Titelblatt die Überreste der ehemaligen Berliner Mauer und enthält Ausschnitte aus einer Rede, die der französische Präsident Mitterrand 1991 im Bukarester Parlamentspalast hielt. Natürlich ist hier mit Sicherheit ein Druckfehler unterlaufen, aber es ist die Art von Dingen, die einen daran erinnern, immer auf der Hut zu sein und immer zu hinterfragen, was einem als harte Fakten präsentiert wird.

IL: Wie sieht die Zukunft des Archivs und von Camera Arhiva aus?

PM & LN: Wir denken, dass die Zukunft von Camera Arhiva vielleicht paradoxerweise nicht digital ist. Wir würden das Material, das wir archiviert haben, gerne in irgendeiner Form der Öffentlichkeit wieder zugänglich machen. Das könnte in Form einer öffentlichen Intervention geschehen, bei der das Publikum frei an den Publikationen teilnehmen und sich damit auseinandersetzen kann, in Form einer interaktiven Ausstellung, eines Lese-/Buchclubs oder einer Art Gesprächsrunde/Konferenz.

Trotz des Aufkommens von Digitalisierungssystemen und ausgeklügelten Datenbanken ist der Zugang für selbstbestimmte Initiativen nach wie vor begrenzt: erstens wegen der schieren Menge an "Inhalten" (dieses verdammte Wort, das sich weigert, zu verschwinden), die darauf warten, gescannt, fotografiert, klassifiziert, hochgeladen und organisiert zu werden. Zweitens wird es immer wieder Fragen geben wie "Wer entscheidet, was archiviert wird oder nicht?" oder "Was verdient es, archiviert zu werden oder nicht?". Dies sind endlose Rätsel. Bei unserem Versuch, die Vergangenheit auszugraben und verdrängte Erzählungen wiederzubeleben, tappen wir unweigerlich in die gleiche Falle wie bei der Verdrängung anderer Erzählungen. Aber dieses Problem wird immer drängender, wenn die Initiator:innen nicht irgendwelche Leute mit einem persönlichen und, wie wir zu sagen wagen, künstlerischen Ziel sind, sondern wenn es die offiziellen Institutionen sind, die sich von einer bestimmten Agenda leiten lassen und das formen, was am Ende als Geschichte mit großem G, als Archiv mit großem A und so weiter präsentiert wird.

Website: cameraarhiva.com

Bilder: Courtesy to Camera Arhiva

Weitere Infos hier: dispozitiv books and Kajet Magazine

Interview: Annika Dorau

Support: Ina Römling, Torben Körschkes, Malte Spindler, Nina Prader and Urs Spindler

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