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16. Feb. 2022

Individuelle Wissensordnungen

In St. Gallen wurde in einem alten Industrieareal eine Kunstbibliothek eingerichtet. Das Bücherregal der Sitterwerk Bibliothek erstreckt sich über 20 Meter auf zwei Ebenen. Die Publikationen folgen keiner vorgegebenen Sortierung, sondern stehen scheinbar zufällig im Regal. Wer dort arbeitet stellt die herausgenommenen Bücher an einen beliebig freien Platz zurück. Alle Bücher sind mit einem RFID-Chip ausgestattet. Jede Nacht fährt ein Roboterarm das Bücherregal längs und scannt alle Titel. Wer am nächsten Morgen in der Datenbank nach einem bestimmten Buch sucht, dem zeigt das System die exakte Position an.

Robotic arm scanning the books at Sitterwerk Library

Die Datenbank ist eine digitale Kopie des Bücherregals und erfährt jede Nacht ein Update. Sie bildet gemeinsam mit Roboterarm und Publikationen ein technologisches Beziehungsgefüge auf das die Besucherin zurückgreifen kann; ein Auffangnetz, um sich nicht im Chaos zu verlieren. Während in der Sitterwerk-Bibliothek einerseits bekannte Referenz- und Ordnungssysteme, Katergorisierungen und Ideen von Abgeschlossenheit negiert werden, bietet sie gleichzeitig die Möglichkeit zielgerichteter, technikoptimierter und datengestützter Navigation. Der Scan durch den Roboter macht die Ordnung nicht gültiger, richtiger oder finaler. Er schafft aber den Möglichkeitsraum, in dem zufällig-glückliche Entdeckungen möglich sind, ohne der Gefahr sich auf existentielle Weise zu verlieren. Denn erst durch den Einsatz des Roboterarms, der alle Titel scannt, ist auch das Chaos zu genießen, wenn neben einem gesuchten Buch auf einmal ein viel spannenderes steht, weil tags zuvor eine andere Besucherin genau diese beiden Titel nebeneinander ins Regal gestellt hat.

Die umliegenden Werkstätten speisen das große Materialarchiv, das zusammen mit der Werkbank die Büchersammlung ergänzt. Die Werkbank ist mit derselben Technologie ausgestattet wie der Roboterarm. Legt man eine Publikation oder ein Material aus dem Archiv auf den Tisch, erscheint es in digitaler Form und mit bibliographischen Daten versehen, auf einem direkt angeschlossenen Interface. So ist es mir beispielsweise möglich, auch zwei Monate nach meinem Besuch, meine gespeicherte digitale Werkbank aufzurufen. Die Werkbank ist ein weiteres Werkzeug um "inhaltlich persönliche[n] Wissensordnungen" – wie es auf der Webseite des Sitterwerks in Anlehnung an Aby Warburg heißt – Raum zu geben.

Die Werkbank, hier mit ein bisschen schweizer Jazz belegt
Ausschnitt meiner digialen Werkbank, auf der Webseite des Sitterwerks einsehbar
Auf Spaziergängen durch das Sittertal finden sich Material- und Formexperimente der umliegenden Werkstätten

Die Gründungsbestände der Sitterwerk-Bibliothek bilden die ehemaligen Sammlungen von Daniel Rohner und Felix Lehner. Diesen ist trotz ihrer durchaus beeindruckenden Vielfalt und Einzigartigkeit ihr Alter insofern anzusehen, als dass Publikationen von FLINTA und BIPoC deutlich unterrepräsentiert sind. Allerdings wird der Bestand seit Gründung der Bibliothek kontinuierlich mit Neuanschaffungen bereichert. Auch arbeitet das Team daran, die bibliographischen Daten dahingehend zu aktualisieren, dass bei Publikationen zu beispielsweise Gruppenausstellungen alle vertretenen Künstler*innen aufgeführt werden und nicht nur die herausgebenden Autoren. In Veranstaltungen und Ausstellungen wird sich zudem kritisch mit dem eigenen Bestand auseinandergesetzt, wie nicht zuletzt im November 2021 mit dem Programm "Reading the Library" und "Teaching the Radical Catalogue – A Syllabus" – eine Lecture Series "zu feministischen und de-kolonialen Ansätzen der Wissensordnung in Bibliotheken des Globalen Nordens".

Aus: Vaclav Pozarek: Atlas Archiv Album Los III

Webseite des Sitterwerks mit vielen Informationen und Eindrücken.

Abbildung oben aus: Vaclav Pozarek: Atlas Archiv Album Los III

Text und Bilder: Torben Körschkes
Übersetzung: Nina Prader
Support: Annika Dorau, Ina Römling, Urs Spindler

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